Impfpflicht gescheitert – Regierung gescheitert?


Am 7. April 2022 scheiterte im Deutschen Bundestag unter dem frenetischen Beifall der Impfgegner aus der AfD der Versuch, eine allgemeine Impfpflicht ab 60 Jahre einzuführen. Das ohnehin problematische Einknicken der Befürworter einer Impfpflicht für alle Erwachsenen – unter ihnen an vorderster Front der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und der Bundeskanzler Olaf Scholz – erreichte mit dem Scheitern selbst des faulen Kompromisses einen Tiefpunkt in der Geschichte der Gesundheitspolitik.

Es handelte sich dem Grunde nach um ein Trauerspiel mit Ansage. Schon kurz nach der Regierungsbildung und im Angesicht des Auslaufens des Infektionsschutzgesetzes Ende März zeigte sich, daß die Regierungskoalition aus SPD und Grünen auf der einen und der FDP auf der anderen Seite in Fragen der Pandemiebekämpfung über nicht einmal grundlegende Gemeinsamkeiten verfügten. In der Folge legte Gesundheitsminister Lauterbach keinen Entwurf eines Gesetzes zur Impfpflicht für alle Erwachsenen ab 18 Jahre als Regierungsentwurf vor, sondern legte die Arbeit an einem entsprechenden Gesetzesentwurf in die Hände der Abgeordneten des deutschen Bundestages. Die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht wurde zu einer Gewissensentscheidung erklärt und der Fraktionszwang aufgehoben.

Hintergrund dieser befremdlichen Entscheidung war die Unfähigkeit von SPD, Grünen und FDP, sich auf eine gemeinsame Linie zu einigen. Ursächlich hierfür war in erster Linie das fragwürdige Freiheitsverständnis der FDP, die die individuellen Freiheitsrechte über den Gesundheitsschutz stellte. So waren es auch Mitglieder der FDP, die als erste einen Gesetzentwurf einbrachten, der den Bundestag aufforderte zu beschließen, daß es (auch in Zukunft) keine Impfpflicht gegen Corona geben werde. Federführend an diesem Gesetzentwurf hatten die ehemalige FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg sowie der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki mitgewirkt.

Das Ziel des Bundeskanzlers, zügig, also bis Ende März, zu einer allgemeinen Impfpflicht zu kommen, wurde durch das zähe parlamentarische Verfahren verfehlt, während dessen Bundestagsvizepräsident Kubicki mitteilte, daß die allgemeine Impfpflicht tot sei. Der kleinste Koalitionspartner sabotierte im Ergebnis erfolgreich ein wichtiges Projekt der Ampel-Koalition.

Schon während der Koalitionsverhandlungen machten SPD und Grüne erhebliche Zugeständnisse an die FDP, die ihren eigenen Wahlprogrammen deutlich widersprachen. So setzte sich die FDP mit ihrer Forderung nach einem kompletten Verzicht auf Steuererhöhungen sowie die Einhaltung der Schuldenbremse durch. Zudem verhinderten die Liberalen, daß es auf den Autobahnen zu einem generellen Tempolimit von 130 km/h kam, für die es eine breite Zustimmung in der deutschen Gesellschaft gibt, das selbst vom ADAC inzwischen befürwortet wird.

Ungeachtet all dessen setzte sich auch im Verlauf der Pandemiebekämpfung der kleinste Koalitionspartner einmal mehr durch. Nicht nur erreichte die FDP die Aufhebung nahezu aller Maßnahmen zum Anfang April 2022, obwohl die Zahl der Neuinfektionen von Rekord zu Rekord galoppierte. Zugleich bremste – und verhinderte – die Partei auch den Erlaß einer allgemeinen Impfpflicht und untergrub somit auch die Grundlage für die einrichtungsbezogene Impfpflicht, die als eine Art Vorschau auf die allgemeine Impfpflicht erlassen wurde.

Dabei war bei der Abstimmung im Bundestag eine paradoxe Situation entstanden. Zwar erzielte keiner der Gesetzesentwürfe für eine Impfpflicht eine Mehrheit im Bundestag. Zugleich aber schnitten die Beschlußanträge zu einer Ablehnung einer Impfpflicht bei den Abstimmungen noch schlechter ab. Mit anderen Worten: Im Bundestag gab es weder eine Mehrheit für noch gegen eine Impfpflicht.

Kritik an der Impfpflicht gab es bereits im Vorfeld von verschiedenen Seiten, darunter auch von Staatsrechtlern. Deren Argument war, daß die Ungewißheit darüber, wie sich die Infektionslage im Herbst entwickeln würde, zu groß sei, um einen dermaßen schweren Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zu rechtfertigen. Somit sollte der Gesetzgeber bis zum Herbst abwarten, ob die Pandemie wieder einen dramatischen Verlauf nehme, was dann wiederum eine Impfpflicht rechtfertigen würde. Der Haken an dieser juristischen Argumentation, deren Gehalt sich auch bestreiten läßt, liegt darin, daß das Warten bis zur Gewißheit bedeutet, daß die Impfpflicht zu spät kommen würde. Denn die Einführung der Impfpflicht braucht nicht nur die Zeit, die die Gesetzgebung in Anspruch nimmt, sondern muß darüber hinaus auch umgesetzt werden. Dies würde dazu führen, daß eine im Angesicht einer dramatischen Pandemieentwicklung im Herbst zu beschließende Impfpflicht für jene Welle eben erneut zu spät käme und das Land unvorbereitet in einen weiteren Corona-Herbst eintreten würde.

Es bedarf mithin schon jetzt der entsprechenden Beschlüsse und den Start der Impfpflicht, damit die Bevölkerung bei einem Auftreten einer neuen Welle mit einem möglicherweise erneut mutierten Virus im Herbst vorbereitet ist. Das Argument, daß die gegenwärtigen Überlegungen einen solchen Eingriff in die Grundrechte nicht rechtfertigen könnten, dürfte allein schon durch die Erfahrungen der vorangegangenen Corona-Wellen im Herbst widerlegt sein. Die Politik muß gewiß nicht noch weitere schwere Verläufe im Herbst abwarten, um endlich einmal vorsorglich handeln zu können, um einen weiteren schweren Verlauf im Herbst und Winter zu vermeiden.

Andere Kritiker der Impfpflicht bestreiten die Wirksamkeit der Impfung an sich. Denn auch geimpfte Personen würden sich infizieren und sogar an oder mit Corona sterben. Auch dieses Argument ist nicht stichhaltig, wird jedoch von Fehlern der Politik zu Beginn der Impfkampagne begünstigt.

Als der Impfstoff entwickelt und die Zulassung in greifbare Nähe gerückt war, erweckte die Politik den Eindruck, das Land könne sich aus der Pandemie herausimpfen. Die Erwartung war, daß die Impfung die Verbreitung des Virus eindämmen würde, indem die Geimpften immun gegen das Virus wurden, somit also nicht nur die Erkrankung sondern auch die Ansteckung unterbunden würde. Im Verlauf der Impfkampagne zeigte sich jedoch, daß die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung zwar geringer, aber nicht ausgeschlossen war. Zudem zeigte sich, daß auch Geimpfte erkranken konnte, gleichwohl aber der Verlauf milder war als bei Ungeimpften.

Der Hauptnutzen der Impfung liegt darin, daß sie einen schweren Verlauf der Krankheit weitgehend unterbinden würde. Dies setzte jedoch voraus, daß die Immunantwort des Körpers auf die Impfung entsprechend stark war. Geimpfte, deren Immunsystem durch andere Krankheiten, einer Krebstherapie oder der Einnahme von Medikamenten zur Dämpfung des Immunsystems nach einer Organtransplantation oder aufgrund des Alters geschwächt war, behielten dennoch ein Risiko für einen schweren Verlauf. Überdies stellte sich im Verlauf der Anwendung der Impfstoffe heraus, daß Auffrischung schneller notwendig wurden als erwartet. Doch auch dies ist keine Besonderheit, denn auch bei anderen Krankheiten muß die Impfung je nach Krankheit nach unterschiedlich langen Zeiträumen aufgefrischt werden.

Die Politik reagierte auf diese Erkenntnisse jedoch nicht mit einer Korrektur des Ziels, bei einer hohen Impfquote die Maßnahmen weitgehend fallenzulassen, sondern hielt an diesem Versprechen als Gegenleistung für eine hohe Impfquote fest.

Tatsächlich bleibt die Impfung mit ihren regelmäßigen Auffrischungen eine richtige und wichtige Maßnahme. Problematisch ist jedoch, hieraus abzuleiten, daß, weil nun die Mehrheit der Bevölkerung geimpft sei, Einschränkungen nach und nach überflüssig oder gar die verfassungsmäßige Rechtfertigung verlieren würden. Denn nach wie vor gibt es eine erhebliche Anzahl von Menschen, bei denen die Impfung aus den oben genannten Gründen nicht im notwenigen Umfang wirkt. Mit der Aufgabe der Maßnahmen werden diese Menschen nun stärker isoliert, weil sie selbst Vorsorge treffen müssen, sich nicht anzustecken in einem Umfeld, in dem die Menschen durch die Aufgabe der Corona-Maßnahmen immer leichtsinniger werden.

Der Schutz der sogenannten »vulnerablen« [= verletzlichen] Gruppen wird mit dem sogenannten »Freedom-Day« [Freiheits-Tag] aufgegeben. Denn Voraussetzung für den Schutz dieser Gruppen wäre nunmehr, daß die Mehrheit der Menschen vernünftig bleibt, und zum Beispiel weiterhin Abstand hält oder Schutzmaske trägt. Dieses vernünftige Verhalten ist jedoch seit der Aufgabe der Maßnahmen erkennbar rückläufig. Auch in den Geschäften tragen die Menschen zunehmend weniger eine Schutzmaske.

Dabei bleibt angesichts hoher Infektionsraten und der leichten Übertragbarkeit des Virus der Selbstschutz durch das Tragen von Masken und das Abstandhalten wichtig. Denn je mehr Menschen – auch geimpfte – sich mit dem Virus infizieren, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich das Land und die Welt im Herbst einer neuen Virusvariante gegenüber sieht, gegen die dann die Impfung möglicherweise weniger effektiv ist.

Auch die Aufgabe bundesweiter Schutzmaßnahmen ist eine weitere Niederlage des Bundesgesundheitsministers Lauterbach, denn sie geschah gegen seine ausdrückliche Empfehlung. Zwar verteidigte Lauterbach die Entscheidung der Regierung, gleichzeitig rief er jedoch die Eigentümer der Geschäfte auf, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und weiterhin Masken im Geschäft vorzuschreiben, was bislang die wenigsten taten. Diese Widersprüchlichkeit in seinen Erklärung weist deutlich darauf hin, daß die Novelle des Infektionsschutzgesetzes kein Kompromiß war, sondern gegen seinen Widerstand durchgesetzt wurde.

Dies bedeutet für Menschen, bei denen die Impfung nicht die volle Wirkung erzielt, daß sie sich selbst isolieren müssen, wenn sie sich nicht anstecken wollen. Überdies wurde mit der Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes wieder ein Flickenteppich an Maßnahmen geschaffen, die sich nunmehr nicht nur von Bundesland zu Bundesland, sondern sogar von Landkreis zu Landkreis oder von kreisfreier Stadt zu kreisfreier Stadt unterscheiden können. Dies trägt maßgeblich dazu bei, daß die Menschen den Überblick darüber verlieren, was denn nun eigentlich gerade in der eignen Kommune gerade gilt.

Die Aufgabe der Maskenpflicht im Handel dürfte dazu führen, daß künftig das Virus wieder stärker verbreitet wird. Mit dem Ende der Testpflicht im Rahmen von 3G besteht überdies die Gefahr, daß ein Ausbruch später erkannt wird, weil eben nicht mehr so viel getestet wird. Die makabre Folge davon könnte sein, daß ein Anstieg der Infektionstätigkeit erst anhand der Zahl jener abgelesen werden wird, die an oder mit Corona gestorben sind.

Die Bundesregierung hat sich somit auf Betreiben der FDP aller Mittel begeben, schnell und effizient auf eine Verschärfung der Pandemielage zu reagieren. Das Infektionsschutzgesetz, das zuletzt beschlossen wurde, hat eine Laufzeit bis September. Eventuelle Maßnahmen, die dann erst festgelegt werden, dürften für ein Anschwellen einer neuen Welle mit einer möglichen neuen Mutation im Herbst zu spät kommen – ebenso wie ein erneuter Anlauf zur Impfpflicht, den Lauterbach zuletzt ohnehin vorläufig ausgeschlossen hat.

Welche Schlußfolgerungen sind aus alledem zu ziehen?

Es ist bemerkenswert, wie weit sich die FDP mit ihrem verqueren Freiheitsverständnis innerhalb der Koalition durchgesetzt hat. Fraglich ist, ob es innerhalb von SPD und Grünen Teile gibt, die diesen Kurs der FDP mittragen, oder ob rot-grün tatsächlich die latenten Drohung eines Scheiterns der Koalition so sehr fürchten, daß sie im vorauseilenden Gehorsam der FDP nachgeben. Bundeskanzler Olaf Scholz erscheint in dieser Debatte nicht als Führungsfigur, sondern als schwacher Kanzler, der dem kleinsten Koalitionspartner aus Gründen des Machterhalts ständig nachgibt.

Indem Bundesgesundheitsminister Lauterbach als Fachminister ebenfalls die Beschlüsse, die er im Grunde nicht nur ablehnt, sondern für einen schweren Fehler hält, mitträgt und in der Öffentlichkeit sogar verteidigt, während er zugleich durchblicken läßt, daß er sie für falsch hält, verliert er mehr und mehr seine Glaubwürdigkeit. Daß der Fachminister, der als Arzt und Wissenschaftler zugleich Experte ist, sich gegen den kleinsten Koalitionspartner nicht durchsetzen kann, zeigt zugleich, daß er weder beim Kanzler noch im Kabinett den notwendigen Rückhalt für seine Positionen genießt.

In der Pandemiebekämpfung sind Olaf Scholz und sein Gesundheitsminister Lauterbach mit ihren Versprechen, eine Impfpflicht einzuführen und weiterhin einen effektiven Schutz gegen das Virus zu gewährleisten, gescheitert. Schon der Verzicht auf einen Regierungsentwurf, um wenige Wochen nach Bildung der Koalition eine Auseinandersetzung mit der FDP zu vermeiden, war ein schwerer Fehler und legte die entscheidende Führungsschwäche des Bundeskanzlers und den mangelnden Rückhalt für den Bundesgesundheitsminister gnadenlos offen. Diese Strategie öffnete die Tür zu einer langwierigen Debatte, in deren Rahmen das eigentliche Ziel, eine Impfpflicht für alle Erwachsenen einzuführen, zerredet wurde.

Nachdem die Bundesregierung unter Federführung der FDP das Ziel, effektive Maßnahmen gegen die absehbare Herbstwelle der Pandemie zu ergreifen, aufgab, dürfte das Land einem schweren Herbst und vielleicht einem noch schwierigeren Winter entgegengehen. Absehbare Lockdowns und schwere Eingriffe wären jedoch vermeidbar, hätte sich die Politik auf diesen dritten Corona-Herbst angemessen vorbereitet. Daß dies nicht geschehen ist, dürfe am Ende allen drei Parteien der Ampel-Koalition zugeschrieben werden.

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